Fachtag "Gesundheit und Migration"

Alle in Rheinland-Pfalz lebenden Menschen sollten denselben Zugang zum Gesundheitssystem haben und dieselbe gute medizinische Versorgung genießen - ein Anspruch, hinter dem die Realität zurückbleibt. Denn die Migrationsgeschichte ist ein Merkmal von vielen, das Einfluss haben kann auf die Frage, wie gut die Menschen in unserem Gesundheitssystem aufgehoben sind. Diese Tatsache wirft vielfältige Fragen auf, mit denen sich der Landesbeirat für Migration und Integration am 15. Juli 2022  genauer beschäftigte.

Die Arbeitsergebnisse von vier Workshops wurden in Handlungsempfehlungen an die Landesregierung zusammengefasst.

Workshop 1 „Prävention und Gesundheitsbildung“ empfiehlt

  • „out of the box“ - also ressortübergreifend und unbürokratisch - zu denken 
    Um vernetzes, ressortübergreifendes Denken und Handeln zu fördern, sollten auf Landesebene und auf kommunaler Ebene regelmäßige Veranstaltungen stattfinden – ein Landesgesundheitskongress sowie kommunale Gesundheitskonferenzen -, die insbesondere die gesundheitsbezogenen Bedarfe von Menschen mit Migrationsgeschichte in den Blick nehmen und die die Vielfalt der Akteure und Themen dieses Arbeitsbereiches widerspiegeln. Ziel sollte es sein, die Kompetenzen aller Akteurinnen und Akteure zu nutzen, um mögliche Zugangsbarrieren zu identifizieren und Wege aufzuzeigen, mit denen die Gesundheitskompetenz der Menschen gestärkt und diversitätssensibles Handeln der Akteure gefördert werden kann.
     
  • mehr Ressourcen für niedrigschwellige Angeboten zur Verfügung zu stellen.
    Niedrigschwellige Angebote erfolgen zumeist auf Basis ehrenamtlicher Tätigkeit. Erforderlich sind personelle Ressourcen für die Begleitung und Unterstützung der ehrenamtliche Tätigen sowie finanzielle Ressourcen, die eine angemessene Aufwandsentschädigung gewährleisten.
     
  • den öffentliche Raum so zu gestalten, dass Menschen sich gerne darin bewegen und einander begegnen
    Beispielsweise schaffen Spiel-, Sport- und Bewegungsflächen Begegnungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum. Hier bestehen Schnittmengen mit den Bereichen Stadtplanung, Mobilität und Klimawandel. Durch Sozialraumkonferenzen mit Bürgerbeteiligung sollte eine dem Bedarf angemessene Planung erfolgen.
     
  • die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdiensts (ÖGD) zu stärken und dessen    Selbstverständnis zu reflektieren
    Nach einem Beschluss der Gesundheitsministerinnen und Gesundheitsminister von Bund und Ländern werden die Gesundheitsämter in ganz Deutschland personell aufgestockt, modernisiert und vernetzt. Im Zuge dessen sollte eine Sensibilisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes für die Zielgruppe „Menschen mit Migrationsgeschichte“ erfolgen.

Workshop 2 „Zugang zur Gesundheitsversorgung“ empfiehlt

  • gesetzliche Restriktionen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung abzuschaffen
    Auf Bundesebene sollten bestehende rechtliche Zugangsbeschränkungen für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger beim Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung beseitigt, die Einschränkung medizinischer Leistungen für dem Asylbewerberleistungsgesetz unterliegende Schutzsuchende und Geduldete aufgehoben und die Meldepflicht der Leistungsbehörden an die Ausländerbehörden nach § 87 AufenthG im medizinischen Bedarfsfall ersatzlos gestrichen werden. Die Landesregierung wird darum gebeten, sich hierfür auch auf Bundesebene  einzusetzen. Bis zur Abschaffung aller gesetzlichen Restriktionen sollte die Landesregierung einen einheitlichen Orientierungsrahmen hinsichtlich des Leistungskataloges nach §§ 4 und 6 AsylblG entwickeln, landesweit die elektronische Gesundheitskarte (eGK) für Geflüchtete einführen und die Arbeit der „Clearingstelle Krankenversicherung Rheinland-Pfalz“ dauerhaft finanziell absichern und bedarfsorientiert ausbauen.
     
  • zielgruppenorientierte, niederschwellige und aufsuchende Informations-, Vermittlungs- und Zugangsangebote auszubauen und zu verstetigen
    Die bestehenden, insbesondere kommunalen Angebote zur Verbesserung des Zugangs sozial benachteiligter Personen zum Gesundheitssystem sollten weiterentwickelt und ausgeweitet werden. Ziel sollte es sein, flächendeckend professionelle Strukturen zu etablieren und Personen (Gesundheitslotsen und Gesundheitslotsinnen/Kümmerer und Kümmerinnen) zu qualifizieren, die Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte niederschwellige, mehrsprachige, transkulturell kompetente und aufsuchende Informations- und Unterstützungsangebote unterbreiten und sie im Bedarfsfall auf dem Weg in das Gesundheitssystem begleiten. Derartige Angebote sind idealerweise an bestehende oder neu zu schaffende Strukturen der Sozialarbeit oder der Pflege (zum Beispiels im Sinne des Community Health Nursing) angedockt, durch diese koordiniert und nachhaltig finanziert.
     
  • professionelle Sprachmittlung auf den Zugangswegen in die Gesundheitsversorgung zu etablieren
    Die Sprachmittlung im medizinischen Bereich sollte durch einen entsprechenden Rechtsanspruch abgesichert und durch Vermittlungsstellen, die auf Pools qualifizierter Sprachmittelnder zugreifen können, realisiert werden. Die fortschreitende Digitalisierung ermöglicht in diesem Zusammenhang auch technikbasierte Sprachmittlung via Telefon oder Video. Der Landesregierung wird gebeten, sich hierfür weiterhin auf Bundesebene einzusetzen und im Land eine professionelle und flächendeckende Sprachmittlungsstruktur zu gewährleisten.
     
  • transkulturelle Kompetenzen mehr als bisher in der Ausbildung von Gesundheitsberufen zu verankern
    Bei den Gatekeeperinnen und Gatekeepern der Gesundheitsversorgung und weitergehend im Zugangsbereich zu medizinischer Versorgung bedarf es transkultureller Gesprächs- und Anamnesekompetenzen, um die Gesundheitsbedarfe von Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte auf Augenhöhe identifizieren zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Zuschreibungen und Stereotypisierungen aufgrund einer unterstellten Herkunft oder kulturellen Zugehörigkeit zu „Othering-Effekten“ führen und die tatsächlichen Gesundheitsbedarfe des jeweiligen Individuums aus dem Blick geraten.

    Den für die Ausbildungsinhalte in Gesundheitsberufen zuständigen Behörden auf Landes- und auf Bundesebene wird deshalb empfohlen, den Erwerb transkultureller Kompetenzen in den jeweiligen Ausbildungslehrplänen stärker als bisher zu verankern. Zugleich wird empfohlen, transkulturelle Kompetenzen bei bereits im Zugangsbereich der Gesundheitsversorgungbeschäftigten Personen durch (verpflichtende) berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungsangebote zu fördern.

Workshop 3 „Ausgestaltung des Gesundheitssystems“ empfiehlt:
 

  • Interkulturelle Öffnung (IKÖ) auch im Gesundheitsbereich als Schlüsselstrategie zu stärken
    IKÖ im stationären und ambulanten Bereich der Gesundheitsversorgung sollte verstanden werden als eine Anpassung der strukturellen Rahmenbedingungen an ein interkulturell orientiertes Arbeitskonzept, das sprachliche, kulturelle, ethnische und religiöse Hintergründe der Patientinnen und Patienten sowie der Mitarbeitenden berücksichtigt. Hauptziele sind dabei Konfliktvermeidung, Arbeitserleichterung, allgemeine Verbesserung der Patientenversorgung und das Beheben von Ungleichheiten in der Versorgung. Konzepte der IKÖ sind hierfür besonders geeignet und sollten auch im Bereich der Gesundheitsversorgung als wirkungsvolle und nachhaltige Strategie stärker verfolgt werden.
     
  • Vorhandenes und angeworbenes Fachpersonal zu halten
    Die Zahl der zugewanderten Ausländerinnen und Ausländer, die im Gesundheitswesen arbeiten, hat sich zwischen 2013 und 2019 fast verdoppelt und beträgt mittlerweile rund 25 % der insgesamt vier Millionen Beschäftigen in Gesundheits- und Pflegeberufen. Damit aus dem Ausland angeworbene Fachkräfte die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen können und damit sie längerfristig in Deutschland bleiben, sollten sie vor allem in der wichtigen Phase der Einarbeitung (Onbording) effektiv unterstützt werden: Dazu gehört neben der fachlichen Einarbeitung auch die Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation, also zum Beispiel die Unterstützung bei der Suche nach Wohnraum, der Kinderbetreuung und der Arbeitssuche für mitziehende Angehörige. Um entsprechende Angebote für angeworbene Fachkräfte und ihre Familien zu machen, sollten Unternehmen mit lokalen Institutionen zusammenarbeiten.
     
  • bewährte und implementierte Konzepte der IKÖ in RLP sichtbarer zu machen
    IKÖ hat inzwischen sein ursprüngliches „Nischendasein“ verlassen und wird auch im Gesundheitsbereich vielfach als eine effektive und zeitgemäße Strategie der Organisations- und Personalentwicklung betrachtet. Dabei ist der Aspekt der Steigerung der organisatorischen Effizienz durch Prozesse der IKÖ stärker in den Vordergrund gerückt. Dennoch gibt es vielerorts Vorbehalte, IKÖ-Konzepte zu entwickeln, weil sie unter anderem als aufwendig und komplex empfunden werden. Hier könnte es hilfreich sein, bereits bestehender Konzepte und Erfahrungen in Einrichtungen oder Praxen sichtbarer zu machen. Der Austausch zwischen Verbänden und Einrichtungen aus dem Gesundheitsbereich sowie die Bereitstellung von Arbeitshilfen sollten daher stärker verfolgt werden.
     
  • Interkulturelle Öffnung nicht im Widerspruch zu allgemeinen diversitätsorientierten Konzepten zu betrachten
    Einige Herausforderungen im Gesundheitsbereich sind zwar eng mit Migration verbunden; dazu gehören besonders Sprach- und Kommunikationsbarrieren, Diskriminierung und fehlendes Wissen in Bezug auf die Strukturen der Gesundheitsversorgung in Deutschland. Doch diese Herausforderungen treffen weder alle Zugewanderten gleichermaßen, noch beschränken sie sich auf diese. Daher werden verstärkt, und nicht nur im Gesundheitswesen, diversitätssensible Konzepte (die auch andere Merkmale wie Behinderung, Alter oder geschlechtliche Orientierung berücksichtigen) diskutiert, von denen alle Menschen profitieren sollen. Die Diskussion darüber, wie eine diversitätssensible Gesundheitsversorgung konkret umgesetzt werden kann, steht allerdings in Deutschland noch am Anfang. Im Bereich der Interkulturellen Öffnung gibt es hingegen schon zahlreiche bewährte Konzepte und Erfahrungswerte. Diese sollten stärker als Modelle genutzt werden, um daraus diversitätsorientierte Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.

Workshop 4 „Psychosoziale und psychotherapeutische Versorgung“ empfiehlt
 

  • die interkulturelle Öffnung in Form ausreichender Vergabe von freien Praxissitzen an Psychologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit interkulturellen Schlüsselkompetenzen sowie mit Migrationshintergrund zu fördern
    Seit Jahren besteht ein großer Bedarf und eine hohe Nachfrage an Therapieplätzen für Menschen mit Migrations- und. Fluchterfahrung. Durch die Pandemie sowie Migration aus Krisengebieten ist dieser Bedarf an Versorgung deutlich größer geworden. Sehr lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz, lange Fahrtwege verbunden mit hohen Fahrtkosten sowie unüberwindbare (Sprach-) Barrieren für Menschen mit Migrations-/Fluchterfahrung sind alltägliche Praxis. Um die prekäre Versorgungslage zu verbessern und Interkulturelle Öffnung voranzutreiben ist eine Anpassung der Kassensitze (Einführung einer Vergabe-Quote von Sitzen an Psycholog:innen / Psychotherapeut:innen mit internationaler Erfahrung), eine neue Bedarfsplanung und eine erneute Ermittlung psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs durch die Kassenärztliche Vereinigung und die Berufsverbände unverzichtbar.
     
  • die feste Verankerung inter-/ transkultureller Kompetenzen als Pflichtmodule in Aus-, Fort- und Weiterbildung
    Die Arbeit mit Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte erfordert ein gewisses Maß an Kernkompetenzen wie Intersektionalität, Kultur – und Religionssensibilität, Rassismuskritik und Wissen um migrations- und diversitätsspezifische Themen und Probleme. Die Implementierung von inter-/transkulturellen Kompetenzen als verpflichtende Module in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Psychologinnen und Psychologen sowie von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und an den Hochschulen und Kammern sind unerlässlich, um eine adäquate, qualitative und professionelle psychotherapeutische Versorgung zu gewährleisten.
     
  • eine verstetigte (Regel-/ Mehr-) Finanzierung
    Um den bestehenden Bedarfen wie beispielsweise vorhandenen Sprachbarrieren gezielt entgegen zu wirken, ist es wichtig, dass finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die institutionelle Verankerung einer geregelten Finanzierung von Sprach- und Kulturmittlerinnen und -mittlern mit Fachkenntnissen im psychosozialen / stationären und ambulanten psychotherapeutischen Bereich ist essentiell notwendig. Zudem ist die Sicherstellung der Finanzierung von Psychosozialen Zentren und ihr Ausbau sowie eine Erweiterung von Therapieangeboten für Kinder- und Jugendliche erforderlich.